Dieser Text entstand im Rahmen des Lektürekurses von Erich Fromms Studie “Arbeiter und Angestellte am Vorabend des dritten Reiches. " bei Dr. des. Simon Schaupp im Frühlingssemester 2021 an der Universität Basel.
Einleitung
Der Soziologe Theodore Abel schrieb 1934 während eines Forschungsaufenthaltes in Deutschland in Zusammenarbeit mit der NSDAP einen Fake-Wettbewerb aus, um Lebensgeschichten von Nationalsozialisten zu erhalten, welche vor 1933 in die NSDAP eingetreten waren. Diesen Kniff wählte er, weil es ihm zuvor als amerikanischer Soziologe nicht gelungen ist, auch nur eines der 850'000 NSDAP-Mitglieder zu interviewen. Durch den Wettbewerb, welcher sogar von NS-Propagandaminister Goebbels unterstützt wurde, sammelte Abel 683 autobiografische Berichte, welche als Grundlage für sein Buch “Why Hitler came to power” dienten (Abel 1966). 584 dieser Dokumente wurden kürzlich als Digitalisate veröffentlicht (Abel 1930–1945).
Für diese Hausarbeit werden fünf dieser Briefe einem Close Reading unterzogen. Es werden Aspekte im Material herausgearbeitet, welche, insbesondere unter der im Seminar behandelten theoretischen Perspektiven von Fromm (1989) und Adorno (2018), besonders interessant erscheinen. Die Auswahl der fünf Briefe erfolgte aufgrund einer Affinität der Personen zu Kunst. Vier Personen waren Musiker:innen, eine Person war Kunstmaler. Das Interesse für diese Berufsgruppe ist eher explorativer Art und nicht hypothetisch begründet. Darin steckt aber auch die Vermutung, dass die Personen durch ihren Lehrberuf weder typische Arbeiter:innen noch Angestellte waren und somit nicht in die Zielgruppe von Fromms Studie fallen. Dies macht sie für eine spezielle Betrachtung interessant.
Ich gehe auf den künstlerischen Hintergrund der Personen, den Anlass zu ihrem Parteibeitritt und ihren Führerkult ein.
Künstlerischer Lehrberuf und Kleinbürgertum
Die Arbeiterschaft und das Bürgertum beugten sich dem Nazismus lediglich, das Kleinbürgertum aber wurde seine fanatische Anhängerschaft (Fromm 1989: 339). Künstlerische Berufe sind vor allem im Bürgertum eine Berufsoption gewesen. Von den fünf Personen ist jedoch nur eine in einem eher bürgerlichen Elternhaus aufgewachsen (vgl. Mosler-Sturm 1934). Der Besitz eines Geschäftshauses ermöglichte ihren Eltern, sich frühzeitig zur Ruhe zu setzen. Dies ermöglichte ihr, eine musikalische Laufbahn einzuschlagen und Musik zu studieren. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Weimarer Republik zwangen sie jedoch zum Studienabbruch:
Eine gewissenlose, schurkige Regierung wusste es hinzurichten, das die steuerliche Belastung des Grundbesitzers die Einnahmen überstiegen (…) während ich nach abgebrochenem Studium unterrichtete, um nicht vollends dem Hunger preisgegeben zu sein. (Mosler-Sturm 1934)
Eine weitere Person ist als Arbeiterkind durch eine Förderung zum Kunstmaler geworden und hat seine Fähigkeiten später als Hersteller von Propagandazeichnungen in die Dienste der NSDAP gestellt (Höfler 1934). Die restlichen drei haben nur kurz oder gar nicht als Künstler:innen (Musiker:innen und/oder Musik-Lehrer:innen) gearbeitet und wurden danach Beamte (Jöms 1934; Trube 1934) oder Vorarbeiter (Geitz 1934). Inwiefern diese Abwendung vom gelernten Beruf mit wirtschaftlichen Gründen zu tun hat, wird aus den Briefen nicht ersichtlich. Es lässt sich aber festhalten, dass durch ihre Arbeitssituation die meisten eher im Kleinbürgertum anzusiedeln wären, womit ihnen mit Fromm eine besondere Anfälligkeit für den Nationalsozialismus attestiert werden muss (Fromm 1989: 339).
Anlass für den Parteibeitritt
Mehrere Personen erleben wirtschaftliche Not und daraus hervorgehende Ohnmacht. Die schlechte wirtschaftliche Lage seit 1918 hat insbesondere im Kleinbürgertum für Unsicherheit gesorgt (Fromm 1989: 341). Wirtschaftliche Gründe für den Parteibeitritt werden jedoch nur implizit genannt. Expliziert wird hingegen die Niederlage im ersten Weltkrieg, welche als Schmach erlebt wurde. Karl Geitz wurde durch “Weltkrieg und die Zeit des Niedergangs” politisiert und schloss sich direkt einer völkischen Jugendbewegung an (Geitz 1934). Dort fehlte ihm jedoch ein Führer für die Jugend, weshalb er sich später der NSDAP zuwandte. Der zuvor unpolitische Friedrich Jöms wurde nach der Rückkehr aus dem Krieg dadurch politisiert, dass er sich an Klassenkampf und “zänkerischer” Parteipolitik störte:
Aufmerksam wurde ich erst nach meiner Entlassung aus dem Heeresdienst als der Parteizank, der Klassenkampf die Würdelosigkeit und die Gegensätze zwischen den einzelnen Gruppen der Berufsständen immer größerer Formen annahmen. Man mußte sich als denkender Mensch die Frage stellen, was soll das alles, was wollen die Menschen, warum wird sich gestritten und geschlagen. (Jöms 1934)
Er erhoffte sich, dass diese “Zustände (..) von einem tatkräftigen Regierungsmann beseitigt werden” (Jöms 1934), was ihn schliesslich zum Parteibeitritt bewegte. Auch bei Agnes Mosler-Sturm – welche durchaus wirtschaftliche Not erlebt hat – ist eine vermeintliche “Zersetzung” der Musik als “Deutschlands höchstem Geistesgut” durch “artfremde Mächte” der entscheidende Wendepunkt (Mosler-Sturm 1934). All diese Berichte lassen sich mit Fromms Konzept des autoritären Charakters deuten: Gefühle von Ohnmacht, Unzufriedenheit und Minderwertigkeit werden dadurch zu überwinden versucht, das eigene Selbst in einem “grösseren und mächtigeren Ganzen” aufgehen zu lassen (Fromm 1989: 308).
Bei Wilhelm Höfler zeigt sich ein ähnliches Muster. Nach der Rückkehr als Soldat aus dem Weltkrieg erfuhr er Gefühle der Leere, der Atomisierung und der Exklusion vom Rest der Gesellschaft und sehnte sich die gemeinschaftliche Einheit der militärischen Kameradschaft und das Streben nach Grossem zurück:
Das Volk tanzte, hatte alle Not, obwohl diese nicht etwa nicht mehr vorhanden war, vergessen, hatte vollständig vergessen, dass der Soldat die allerschwersten Opfer gebracht hatte und war direkt gehässig auf den heimkehrenden Soldaten eingestellt. Für den wirklichen Soldaten war dies die grösste Enttäuschung, denn dieser wusste, dass nur die Kameradschaft und die Gemeinschaft allein die Möglichkeit geben, Grosses zu erreichen, oder auch nur zu erhalten. (Höfler 1934)
Es zeigt sich, dass Konflikte innerhalb der als Volk oder Nation imaginierten Gemeinschaft abgelehnt werden. Herbeigesehnt wird stattdessen eine Einheit des Volkes. Dies hat einen antidemokratischen und auch antimarxistischen Charakter, denn für beide sind – in Theorie und Praxis – Konflikt und Debatte konstitutiv. Die Konflikthaftigkeit innerhalb der Weimarer Republik wird zwar von den Personen wahrgenommen, doch statt über Austragung der Konflikte zu gerechteren Strukturen zu gelangen, wird propagandistisch ein “unity trick” (Adorno 2018: 425) vollzogen und damit eine künstliche Gemeinschaft hergestellt. Der Klassencharakter der Gesellschaft wird dabei unbewusst gemacht. Die dadurch erreichte Gleichheit ist deshalb nur Schein oder “repressive egalitarianism instead of realization of true equality through the abolition of repression” (Adorno 2018: 425).
Führerkult
Der “autoritäre Charakter” (Adorno 2019; vgl. Fromm 1989) zeigt sich nicht nur in der Sehnsucht nach dem eigenen Aufgehen in einem grossen Ganzen, sondern auch im Führerkult, welcher bei allen fünf Personen sehr ausgeprägt ist.
Hitler wird als “gottgegebener Führer und Erretter” (Mosler-Sturm 1934) beschrieben, welcher als einziger “in der Lage sein würde, andere Zustände in Deutschland herbeizuführen” (Jöms 1934). Aus einer sozialpsychologischen Perspektive zeigt sich hier die masochistische Triebstruktur, welche durch die Unterwerfung unter einen Führer Befriedigung findet (Fromm 1989: 307).
Adorno hat die Sozialfigur des faschistischen Führers als “great little man” beschrieben (Adorno 2018: 421). Der Führer muss beides gleichzeitig ausstrahlen: Omnipotenz und die Nahbarkeit eines einfachen Bürgers. Durch diese Janusköpfigkeit werden einerseits die eigenen, nicht realisierbaren Triebe auf die Macht des Führers projiziert und so stellvertretend “realisiert”, andererseits gelingt diese Identifikation gerade durch die scheinbare Ähnlichkeit und Ebenbürtigkeit von Selbst und Führer. Dieser Aspekt kommt in einem Brief zum Vorschein, wo vom “schlichten Bauarbeiter Adolf Hitler” die Rede ist, welcher dem Volk den “Weg zur Rettung” und den “Weg zur Freiheit” verkündet habe (Geitz 1934).
Eine interessante Variante des Führerkults ist das von Wilhelm Höfler postulierte Konzept des “unbekannten Soldaten”. Höfler und seine Kameraden haben nationalsozialistische Propaganda selbstständig verbreitet, ohne dass ihnen dafür Befehle erteilt wurden. Trotzdem bettete er die eigenen Handlungen in die autoritäre Gesamtstruktur ein:
Das aber macht ja den wahren Soldaten, dass er kämpfen kann und zu handeln weiss, auch wenn er nicht immer den Befehl erhalten hat, aber stets so zu kämpfen versteht, dass es dem endgültigen Siege dienlich ist, manche stille Tat des einfachen Soldaten wird eine Wirkung gehabt haben, die den Plänen des obersten Feldherrn entsprach, ohne dass diese Pläne, in Form von Befehlen, dem einfachen Soldaten bekannt gewesen zu sein brauchen. Das ist die Grösse des einfachen Soldaten, dass er immer seine Pflicht und Schuldigkeit tut, ohne daran zu denken, dass er später als der Held bezeichnet wird. Der unbekannte Soldat! (Höfler 1934)
Der Soldat erscheint hier als Unbekannter, welcher instinktiv im Sinne des grossen Ganzen und des Führers agiert. Hier zeigt sich der von Fromm diagnostizierte Mangel an Individuation und die Furcht vor der Freiheit, in welche sich Anhänger:innen des Faschismus regressiv flüchten (Fromm 1989: 299).
Fazit
Autoritäre Charakterstrebungen zeigten sich in allen Briefen deutlich, insbesondere die der Unterwerfung und des Führerkults. Dies ist jedoch insofern wenig erstaunlich, als die Personen bereits alle NSDAP-Mitglieder waren und zudem die Wettbewerbsausschreibung darauf abzielte, dass sich die Teilnehmenden als möglichst “gute” Nazis beschreiben sollen.
Literatur
Abel, Theodore Fred (1930–1945): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58225/theodore-fred-abel-papers (6. April 2021).
——— (1966): The Nazi Movement: Why Hitler Came to Power (1938). New York: Atherthon Press.
Adorno, Theodor W. (2018): «Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda». in: Gesammelte Schriften 8, Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 408–433.
——— (2019): «Die autoritäre Persönlichkeit (4.5.1960)». in: Michael Schwarz(hrsg.): Vorträge 1949-1968,.
Fromm, Erich (1989): «Die Furcht vor der Freiheit (1941)». in: Gesamtausgabe, Band I., München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Geitz, Karl H. (1934): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Theodore Fred Abel(hrsg.): Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58613/karl-h-geitz (9. April 2021).
Höfler, Wilhelm (1934): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Theodore Fred Abel(hrsg.): Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58415/wilhelm-hofler (9. April 2021).
Jöms, Friedrich (1934): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Theodore Fred Abel(hrsg.): Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58263/friedrich-joms (9. April 2021).
Mosler-Sturm, Agnes (1934): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Theodore Fred Abel(hrsg.): Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58326/agnes-moslersturm (9. April 2021).
Trube, Wilhelm (1934): Theodore Fred Abel Papers. 1930/1945. Theodore Fred Abel(hrsg.): Stanford, CA: Hoover Institution Library & Archives. https://digitalcollections.hoover.org/objects/58377/wilhelm- (9. April 2021).