Dieser Text wurde 2019 im Rahmen des Seminars “Einführung in die Queer-Theory” an der Universität Basel verfasst.
Die Unterscheidung von biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gender) wurde von feministischen Theoretiker*innen eingeführt. Dabei wurde sex zunächst der Sphäre der unveränderlichen Natur und gender der Sphäre der veränderlichen Kultur zugeordnet. Judith Butler hinterfragte diese Trennung und theoretisierte auch das biologische Geschlecht als eine immer schon diskursiv und kulturell geformte Kategorie (Butler 1991). Radikale Feministinnen kritisierten dies. Butler entkörpere Frauen mit ihrem Dekonstruktivismus und berücksichtige insgesamt mit ihrer konstruktivistischen Theorie die Natur und Materialität insgesamt zu wenig (vgl. bspw. Duden 1993).
Diese Debatten zu Natur und Kultur berühren meines Erachtens im Kern das in der Philosophie diskutierte “psychophysische Problem”. Dieses fragt nach dem Verhältnis von Leib und Seele, Körper und Geist, Materie und Bewusstsein. Ich werde anhand von zwei spezifischen Queer-Theoretiker*innen erörtern, welches Verständnis des psychophysischen Problems implizit in ihren Theorien steckt, beziehungsweise welche Analogien innerhalb der Philosophie existieren und wie dort die Probleme behandelt werden. Ich gehe der Frage nach, inwiefern solche analogisierenden Gedankengänge für die Queer-Theory interessant sein könnten. Ich analysiere die Positionen von Judith Butler und von Anne Fausto-Sterling, weil beide den sex-gender-Dualismus zu überwinden versuchen. Der Text ist wie folgt aufgebaut: (1) wird das psychophysische Problem in der Philosophie und die seine gängigsten Lösungensvorschläge grob dargestellt. Danach arbeite ich (2) anhand einiger Aussagen für beide Theoretiker*innen Analogien heraus. Ich frage also, welcher Lösungsversuch des psychophysischen Problems implizit in den Theorien steckt. Schliesslich diskutiere ich (3), was das für die Queer-Theory bedeuten könnte.
Das psychophysische Problem und seine “Lösungen”
Das psychophysische Problem dreht sich um die Frage, wie die Welt des Bewusstseins und die Welt der Materie zusammenhängen. Dieses Problem ist wird seit der Antike diskutiert in der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele oder von Körper und Geist. Denn wir erleben unser Dasein oft als in zwei Welten getrennt: Einerseits haben wir subjektive Erlebnisse; unser Denken, Fühlen und Erleben hat eine bestimmte subjektive Qualität. Es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, etwas Rotes zu sehen oder Schokolade zu schmecken. Philosoph*innen bezeichnen diese erlebten Geistesinhalte als Qualia. Andererseits scheint jedoch auch eine physische oder objektive Welt zu existieren, in welcher wir Dinge vermessen oder die Konsequenz eines in eine Fensterscheibe geworfenen Steins voraussehen können. Die beiden Welten sind aber miteinander verwoben: Wenn ich mir im Geiste vornehme, dass ich meinen Arm hebe, um einen Stein zu werfen, dann folg mein Arm in der Regel tatsächlich dieser Geistesregung und versetzt den Stein in Bewegung. Umgekehrt hat die materielle Welt auch auf mein subjektives Erleben einen Einfluss, etwa dann, wenn ich über einen Stein stolpere und unangenehm auf den Boden stürze und daraufhin Schmerzen empfinde.
In der Philosophie werden verschiedene Typen von Lösungen des psychophysischen Problems unterschieden: Im Idealismus wird die Position vertreten, dass alles fundamental geistig ist (Chalmers 2018). Beispiele für Idealismen sind etwa die christliche Genesis,1 Platos Ideenlehre oder der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel und seiner Vorstellung eines Weltgeistes. Gemeinsam ist diesen Theorien, dass sie Bewusstsein als primäre Ursache erachten, aus welcher Materie hervorgeht. Der Idealismus tut sich jedoch schwer damit, erklären zu können, wieso eine kohärente physische Welt besteht.
Im Materialismus (oder Physikalismus) wird postuliert, dass alles fundamental materiell ist (Chalmers 2013: 3). Dazu gehört der grösste Teil der Naturwissenschaften, zum Beispiel die Neurowissenschaften, welche Bewusstsein - vereinfacht gesagt - als Produkt von elektrischen Impulsen im Gehirn erklären wollen. Auch Marx’ Theorie, in welcher er Hegels Idealismus auf den Kopf gestellt hat, ist materialistisch.2 Gemeinsam ist diesen Theorien, dass sie Materie als primäre Ursache erachten, und aus dieser somit auch Bewusstsein hervorgeht. Der Materialismus hat jedoch Schwierikeiten zu erklären, wie aus Materie subjektive Erfahrungsinhalte (“Qualia”) entstehen können. Materialismus und Idealismus sind beide Monismen, welche ein einziges Seinsprinzip postulieren, aus welchem alles andere hervorgeht.
Im Gegensatz dazu wird im Dualismus postuliert, dass nicht alles fundamental materiell ist und deshalb alles, was nicht fundamental materiell ist, fundamental geistig sein muss (Chalmers 2013: 3). Es werden also zwei komplett verschiedene Seinsprinzipien postuliert. Der bekannteste Vertreter dieser Position ist Descartes, nach welchem der “cartesianische Dualismus” benannt ist. Dualistische Positionen tun sich schwer zu erklären, wie die beiden getrennten Welten miteinander interagieren können.
Nebst oben erwähnten idealistischen und materialistischen Monismen, gibt es auch noch neutrale Monismen. Diese postulieren, dass alles immer gleichzeitig materielle und geistige Eigenschaften besitzt. Das würde jedoch bedeuten, dass auch kleinste Elementarteilchen bereits geistige Eigenschaften haben, wie dies beispielsweise im Panpsychismus, einer von mehreren neutral monistischen Positionen, der Fall ist (vgl. Chalmers 2013; Spät 2010, 2016).3
Ohne hier vertieft darauf einzugehen kann festgehalten werden, dass keiner der Lösungsvorschläge abschliessend plausibel ist und alle neue Widersprüche erzeugen (vgl. Chalmers 1998: 28).
Das psychophysische Problem bei Judith Butler und Anne Fausto-Sterling
Ich versuche nun herauszuarbeiten, welches Verständnis des Verhältnis von Geist und Materie in den Geschlechtertheorien von Judith Butler und Anne Fausto-Sterling steckt und versuche ihre Positionen den oben geschilderten “Lösungen” für das psychophysische Problem zuzuordnen.
Butler kritisiert an der bisherigen feministischen Theorie, dass das feministische Subjekt durch die Unterscheidung von anatomischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) aufgespalten wird (Butler 1991: 22). Nach Butler ist auch sex als Kategorie - genau wie gender - diskursiv konstruiert und dient der Legitimation und Stabilisierung des heteronormativen Geschlechterrahmens (Butler 1991: 24). Diesen Standpunkt vertritt Butler auch in ihrer Antwort auf die Kritik, dass sie “die Frauen entkörpere” (Duden 1993): In Bodies that matter schreibt sie, dass die sich ständig wiederholende Macht des Diskurses diejenigen Phänomene hervorbringt, welche sie reguliert und restringiert (Butler 1993: 22). Materie ist somit immer etwas zu Materie Gewordenes und somit ein Effekt von diskursiver Macht.
Butler wendet sich gegen die strikte Trennung von sex und gender und damit gegen eine dualistischen Position, welche Materie und Geist in zwei völlig verschiedenen Sphären ansiedelt. Butler scheint Materialität als performativ durch Diskurse hergestellt zu begreifen. Ein Diskurs kann als Produkt von geistiger Aktivität verstanden werden. Dass Geist die Materie hervorbringt ist wiederum die Position des Idealismus. Ich würde deshalb Butlers Geschlechtertheorie als idealistische bezeichnen.
Auch Anne Fausto-Sterling, Biologin und Queer-Theoretikerin, kritisiert die fundamentale Trennung von Natur und Kultur und wendet sich explizit gegen Dualismen. Im Gegensatz zu Butler plädiert sie jedoch dafür, Materie/Natur und Diskurs/Kultur als untrennbare Einheit gleichsam ernst zu nehmen (Fausto-Sterling 2000: 20). Fausto-Sterling wendet sich gegen stark konstruktivistische Perspektiven, denn diese würden tendenziell die Biologie exkludieren und eine feministische Kritik vom Körper oder hormonellen Strukturen undenkbar machen (Fausto-Sterling 2000: 22). Sie ist sich also mit Butler darin einig, dass auch sex diskursiv geprägt ist, weist aber darauf hin, dass Domänen der Biologie, Anatomie, Physiologie, Krankheit, Alter, Leben und Tod nicht negiert werden können (Fausto-Sterling 2000: 23). In Anlehnung an (Grosz 2011) schreibt Fausto-Sterling - im Gegensatz zu Butler - biologischen Prozessen einen Status zu, welcher vor der sozialen Konstruktion ihrer Bedeutung existiert. (Fausto-Sterling 2000: 23). Nichtsdestotrotz ist Rohmaterial für sich alleine nie genug und muss deshalb in Form von Bedeutung symbolisch organisiert werden (Fausto-Sterling 2000: 26). Damit postuliert Fausto-Sterling eine Einheit von Materie und Geist. Dass Geist und Materie gleichsam eine fundamentale Einheit bilden, entspricht der Position eines neutralen Monismus. Ich würde deshalb Fausto-Sterlings Theorie als neutral monistische bezeichnen.
Zur Relevanz des psychophysischen Problems für die Queer-Theory
Welches Fazit lässt sich aus dieser Erkenntnis ziehen? Die Aufteilung in sex und gender entsprechen einer dualistischen Position. Durch ihre Theorien konkretisieren Butler und Fausto-Sterling eine Kritik an dieser Trennung. Butler’s Theorie kippt jedoch in eine idealistische Richtung, welche zu einem Anti-Realismus tendiert und die relativ stabile Kohärenz der Welt nicht erklären kann, was eine Grundproblematik von poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorien darstellt. Aus dieser Perspektive ist auch verständlich, wieso gerade marxistische Theoretiker*innen Butler kritisieren, denn sie verfolgen eine materialistische Position. Mit der Wichtigkeit von Butler und anderen Poststrukturalist*innen für die Queer-Theory (z.B. Foucault ), scheint diese insgesamt zum Idealismus zu tendieren. Damit wird auch der Vorwurf an Butler verständlicher, sie würde zur Entkörperung von Frauen beitragen.
Positionen wie die neutral monistische von Fausto-Sterling, welche Dualismen überwinden, ohne dabei in das Problem in die eine oder andere Richtung zu vereinfachen, erachte ich deshalb für die Queer-Theory als relevant. Ein neutraler Monismus scheint mir die Problematiken der Einseitigkeiten von Idealismus und Materialismus am am ehesten überwinden zu können, ohne sich in dualistische Abspaltungen zu verstricken.
Literatur
Bateson, Gregory (2000): Geist und Natur: eine notwendige Einheit. Hans Günter Holl(ed.): Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
——— (1993): Bodies That Matter on the Discursive Limits of “Sex”. New York: Routledge.
Chalmers, David J. (1998): “Facing up to the Problem of Consciousness.” in: Jonathan Shear(ed.): Explaining Consciousness: The Hard Problem., Cambridge: Mit Press.
——— (2013): “Panpsychism and Panprotopsychism.”
——— (2018): “Idealism and the Mind-Body Problem.” in: William Seager(ed.): The Routledge Handbook of Panpsychism, New York: Routledge.
Duden, Barbara (1993): “Die Frau Ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung.” Feministische Studien 11(2): 24–33.
Fausto-Sterling, Anne (2000): Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books.
Grosz, Elizabeth (2011): Volatile Bodies Toward a Corporeal Feminism. Bloomington: Indiana University Press.
Marx, Karl & Engels, Friedrich (1968): Werke. Band 23. Berlin: Dietz Verlag.
——— (1975): Werke. Band 13. 7th ed. Berlin: Dietz Verlag.
Spät, Patrick (2010): “Panpsychismus ein Lösungsvorschlag zum Leib-Seele-Problem.” Dissertation. Freiburg in Breisgau.
——— (2016): Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind. Berlin: epubli.
“Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.” (Johannes 1:1) ↩︎
“Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.” (Marx & Engels 1975: 9). “Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.” (Marx & Engels 1968: 27). ↩︎
Weil ich mich immer wieder gerne auf ihn beziehe: Eine ähnliche Position eines neutralen Monismus ist auch bei Gregory Bateson zu finden (vgl. Bateson 2000). ↩︎