Dieser Text ist das (nachträglich für diese Website geringfügig angepasste) Resultat einer schriftlichen Prüfung im Rahmen des Seminars “Radikale Demokratietheorie” bei Prof. Dr. Oliver Marchart im Sommersemester 2021 an der Uni Wien. Die Aufgabestellung lautete wie folgt: “Erläutern Sie den Ansatz der partizipatorischen Demokratietheorietheorie. Ziehen Sie dazu auch die Pflichtlektüre von C.B. Macpherson und Carole Pateman heran. Erläutern Sie Patemans Kritik an der deliberativen Demokratietheorie und legen Sie dar, inwieweit umgekehrt partizipatorische Demokratietheorien aus radikaldemokratischer Perspektive kritikwürdig sind.”

Partizipatorische Demokratietheorie kann als Vorläufer radikaler Demokratietheorie erachtet werden. In der Tradition der Arbeiter:innenbewegung zielte partizipatorische Demokratietheorie mitunter auf die Ausweitung von Mitbestimmung in Betrieben und Arbeiterselbstverwaltung (Macpherson 1983: 110). Konträr dazu ist radikale Demokratietheorie stärker in der neuen Linken verwurzelt und grenzt sich von einer Engführung des Blickes auf den Klassenantagonismus ab, bei stärkerer Betonung von Differenz und Identität. Sie teilt mit der radikalen Demokratietheorie einerseits den Anspruch auf Ausweitung der Demokratie in einem dynamisch gedachten Prozess, andererseits den Wert der Demokratie als Eigenwert. Praktisch versucht partizipatorische Demokratie ihren Anspruch durch Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten einzulösen und geht dabei von einem sich selbst verstärkenden, kybernetischen Effekt aus.

Partizipatorische Demokratietheorie hatte ihre Hochphase in den von der Studentenbewegung geprägten 1960er Jahren und rückte mit dem Aufkommen deliberativer Demokratietheorien ab den 1980 in den Hintergrund (Pateman 2012: 7). Pateman (2012) versucht in ihrem Text - mit einer Kritik deliberativer Demokratietheorien - eine Rehabilitierung partizipationstheoretischer Perspektiven. Deliberation sei für partizipatorische Prozesse notwendig, aber nicht genug (Pateman 2012: 8). Deliberative Gefässe wie Mini-Publics, welche durch statistische Auswahlverfahren eine die Bevölkerung repräsentierende Stichprobe zu ziehen versuchen, würden - statt den Demokratisierungsprozess voranzutreiben - viel mehr die bestehenden Institutionen mit Legitimation bedienen (Pateman 2012: 10). Partizipation ist damit nur Schein und verhintert – unter dem Deckmantel ihrer angeblichen Erhöhung – die Einlösung des Demokratisierungsanspruchs selbst.

Macpherson (1983), eine weitere Vertreterin partizipatorischer Ansätze, erachtet politische Apathie breiter Bevölkerungsgruppen als entscheidendes Problem für die Verwirklichung von mehr Partizipation. Sie stellt zudem fest, dass diese Apathie mit sozialer Ungleichheit korreliert. Die entscheidender Faktor für mehr Partizipation müsse deshalb soziale Ungleichheit vermindert und Bürger:innen ihre Rolle über die Vorantreibung von Bewusstseinsprozessen mehr bewusst gemacht werden (Macpherson 1983: 117–119). Macpherson schlägt als konkreten Vorschlag zur Verwirklichung einer partizipatorischen Demokratie eine Kombination eines direktdemokratischen Systems mit einer Variante des gegenwärtigen Parteiensystems vor (Macpherson 1983: 131). Davon erhofft sie sich, Zentralisierungstendenzen wie in der Sowjetunion zu verunmöglichen.

Hier zeigen sich einige zentrale Unterschiede zur radikalen Demokratietheorie. Während die partizipatorische auf institutionellen Umbau hofft, ist sich radikale Demokratietheorie bewusst, dass Wandel in sozialen Kämpfen erstritten werden muss. Da dieses Bewusstsein für die konflikthafte Natur von Gesellschaft tendenziell nicht vorhanden ist, droht partizipatorischer Theorie das Politische an sich abhanden zu kommen, denn politisches Handeln bedeutet Veränderungshandeln. Zudem setzt radikale Theorie auf Parteilichkeit statt Teilhabe. Sie kritisiert den Teilhabe- oder Partizipationsbegriff, weil dieser etablierte Herrschaft affirmiert indem er suggeriert, es gehe nur darum, an dieser teilzuhaben und nicht gegen sie Position zu beziehen. Doch so eine Parteilichkeit setzt eine normative Orientierung voraus. Diese wird in radikaldemokratischer Perspektive durch Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Volkssouveränität als universalisierungsfähige und -würdige demokratischen Prinzipien geleistet.

Hier offenbaren sich meiner Meinung nach jedoch auch einige Einfallstore für Kritik an radikaldemokratischer Demokratietheorie. Die Unversalisierbarkeit der aus der jakobinischen Tradition stammenden Prinzipien wird weitgehend vorausgesetzt und verabsolutiert, ohne ihre Legitimität zu begründen. Damit nimmt radikale Demokratietheorie ihren eigenen Anspruch einer grundlegenden Akzeptanz von Kontingenz womöglich weniger ernst, als der von ihr kritisierte Habermas, bei welchem auf Universalisierbarkeit zielende Moral stets nur praktisch, als diskursive Moral zu haben ist (Habermas 1991: 108). Der Vorwurf an die habermasianische politische Theorie, statt auf Konflikt auf handzahmen Konsens zu setzen, blendet aus, dass Konflikt immer potentielle Einigung (durch Konsens oder Kompromiss) als Kehrseite beinhaltet. Und somit im Umkehrschluss eine Einigung immer auch ihr Nicht-Identisches – also den Konflikt – beinhaltet. Auch bei Habermas werden nicht bloss Argumente ausgetauscht. Durch eine Problematisierung von Geltungsansprüchen wechselt der verständigungsorientierte Modus auf einen konfliktiven Modus der Kritik1. Da Herrschaft sich oftmals taub stellt oder gemachte Erfahrung durch gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit nicht symbolisierbar ist (vgl. z.B. Erdheim 1982), äussert sich solche Kritik aber meist nicht in Form von feinsäuberlichen Argumentationen, sondern in ausbrechenden Revolten. Doch auch darin ist ein Moment praktischer Kritik aufgehoben, denn die Revolte ist meinst nicht ausschliesslich irrationaler Affekt. Allerdings muss in diesen Fällen die darin steckende Kritik zunächst entschlüsselt und übersetzt werden, sonst droht sie womöglich regressive Wirkungen zu erzielen.

Radikale Demokratietheorie kauft sich mit ihrer a priorischen Abstützung auf das Prinzip der Volkssouveränität zudem die Notwendigkeit von Repräsentation ein, wie in der Vorlesung angelehnt an Laclau anhand der Nicht-Selbstidentität von Gesellschaft als Auseinanderfallen von Plebs und Populus rekonstruiert wurde. Eine Radikalisierung der Demokratie könnte jedoch auch gedacht werden, ohne das absolutististische Erbe des Souveräns zu übernehmen. Verwirklichte direkte Demokratie ohne Volk und Souverän wäre entsprechend bloss konstituiert durch eine heterogene Bevölkerung, welche als mündig geltend, einen Staat bildet (Graf 2017: 70). Für dieses Verständnis von verwirklichter und sich ausweitender Demokratie wären jedoch auf Mündigkeit abzielende Bildungsprozesse notwendige Voraussetzung. Radikale Demokratietheorie unterstellt die Notwendigkeit von hegemonialer Praxis, auch für emanzipatorische Bewegungen. Mag dies für die Herbeiführung von Wandel zutreffen, so impliziert ihre Verabsolutierung jedoch eine fundamentale Unmöglichkeit von Autonomie als Selbstgesetzgebung durch Selbstzurücknahme sowie subjektiver Ausbildung eines demokratischen Entscheidungsvermögens. Doch gerade darin steckt auch das demokratietheoretisch rationale Moment von Institutionen (wie z.B. der Volksschule), einem Blindfleck radikaler Demokratietheorie.

Moderne Gesellschaften sind mit zwei Grundproblemen konfrontiert: “Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Mitglieder so sozialisiert sind, dass sie in völlig neuen, unbekannten Situationen aus sich selber heraus vernünftige Entscheidungen treffen können und sie müssen zugleich eine soziale Ordnung herstellen und aufrecht erhalten” (Vogel 2017: 25). Das erste Problem wird durch Bildungsprozesse behandelt, zweiteres durch die Schaffung einer demokratischen Öffentlichkeit. Beides bedingt sich wechselseitig: Bildung ist Vorbedingung für die Entstehung und Co-Kreation einer demokratischen Öffentlichkeit. Eine demokratische Öffentlichkeit ermöglicht wiederum reale Chancen auf die Verwirklichung breit angelegter Bildungsprozesse. Die wechselseitige Einlösung beider Ansprüche kann anhand des normativen Referenzpunktes eines “gesättigten Diskurs”(vgl. Graf 1996: 186f.; Vogel 2017: 25ff.; Graf 2017: 196ff.) bemessen werden. Vor diesem Hintergrund kann deliberative Demokratietheorie nicht auf scheinlegitimatorische Debatten in Mini-Publics reduziert werden, sondern stellt sie die gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer Erhöhung der “diskursiven Sättigung” in der Gesellschaft.

Literatur

Erdheim, Mario (1982): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit: eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Graf, Martin Albert (1996): Mündigkeit und soziale Anerkennung: gesellschafts- und bildungstheoretische Begründungen sozialpädagogischen Handelns. Weinheim; München: Juventa-Verl.

——— (2017): Offensive Sozialarbeit: Beiträge zu einer kritischen Praxis. Band I. Norderstedt: BoD.

Habermas, Jürgen (1991): «Vom Pragmatischen, Ethischen Und Moralischen Gebrauch Der Praktischen Vernunft». in: Erläuterungen Zur Diskursethik, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 100–118.

Macpherson, Crawford B. (1983): Nachruf auf die liberale Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Pateman, Carole (2012): «Participatory Democracy Revisited». Perspectives on Politics 10(1): 7–19. https://www.cambridge.org/core/product/identifier/S1537592711004877/type/journal_article (24. Januar 2022).

Vogel, Christian (2017): Offensive Sozialarbeit: Beiträge zu einer kritischen Praxis. Band II. erfahren und Anwendungen. Norderstedt: BoD.


  1. “Um die Fesseln einer falschen, bloss prätendierten Allgemeinheit selektiv ausgeschöpfter und kontextinsensibel angewendeter universalistischer Prinzipien zu zerbrechen, bedurfte es immer wieder, und bedarf es bis heute, sozialer Bewegungen und politischer Kämpfe, um aus den schmerzhaften Erfahrungen und den nicht wieder gut zu machenden Leiden der Erniedrigten und Beleidigten, der Verwundeten und Erschlagenen zu lernen, dass im Namen des moralischen Universalismus niemand ausgeschlossen werden dar - nicht die unterprivilegierten Klassen, nicht die ausgebeuteten Nationen, nicht die domestizierten Frauen, nicht die marginalisierten Minderheiten” (Habermas 1991: 115–116↩︎