Zum Begriff der Autorität bei Hannah Arendt

In der 2012 publizierten Essay-Sammlung “Zwischen Vergangenheit und Zukunft - Übungen im politischen Denken” geht Hannah Arendt im sechsten Kapitel der Frage nach, was Autorität sei (Arendt 2016: 159–200). Obwohl Arendt vor allem eine historische Genealogie des Ursprungs von Autorität bei den Griechen, den Römern, im Christentum und in der Moderne herausarbeitet, entwickelt sie implizit und nebenbei einen eigenen Begriff von Autorität, welchen sie mit “Autorität überhaupt” vom jeweils in verschiedenen historischen Kontexten geltenden Autoritätsbegriff abgrenzt (Arendt 2016: 159). Dieser Begriff von “Autorität überhaupt” soll im Folgenden mit Gerhard Schwarz’ gruppendynamischen Verständnis von Autorität (Schwarz 2019) kontrastiert werden. Schwarz ziehe ich deshalb herbei, weil meines Erachtens bei ihm ein relativ einfacher, jedoch sehr präziser und soziologisch fruchtbarer Autoritätsbegriff gefunden werden kann. Ich möchte der Frage nachgehen, wie sich der Begriff der Autorität durch eine Zusammenführung des historisch-politisch hergeleiteten Begriffes bei Arendt und des soziologisch-gruppendynamisch begründeten Begriffes bei Schwarz schärfen und somit für soziologische Auseinandersetzungen nutzbarer machen lässt. Dazu wird 1) der Begriff der Autorität bei Arendt rekonstruiert, anschliessend 2) der Begriff der Autorität bei Schwarz ausgearbeitet, worauf mit der Schablone dieser beiden Begriffe 3) in eine Auseinandersetzung anhand bestimmter von Arendt aufgegriffener Themen (Sozialwissenschaften, Totalitarismus, Liberalismus und Konservatismus) getreten wird, um schliesslich 4) eine kondensierte Gegenüberstellung der beiden Begriffe machen und damit die Ausgangsfrage beantworten zu können.

Zum Begriff der Autorität bei Hannah Arendt

Autorität ist bei Arendt ein legitimes hierarchisches Beziehungsverhältnis im politischen Sinne, welches seine Legitimation aus einer äusseren Quelle holt.

Arendt will das historische Verständnis der Autorität in der “westlichen Welt” und den Verlust seiner Gültigkeit betrachten (Arendt 2016: 159). Ihr Ziel ist weder, eine Autoritätsdefinition mit Anspruch auf Allgemeingültig (“Autorität überhaupt”) zu postulieren, noch Autorität im präpolitischen Sinne (z.B. in der Erziehung) zu beleuchten (Arendt 2016: 159). Gegenstand dieses Essays soll nichtsdestotrotz ihre implizite Begriffsdefinition sein, wobei im Folgenden aber nicht mehr von “Autorität überhaupt”, sondern nur noch von Autorität gesprochen wird. Autorität ist nach Arendt ein hierarchisches Beziehungsverhältnis, welches für beide Seiten legitim ist und durch Abwesenheit von Zwang und Gewalt charakterisiert wird (Arendt 2016: 160). Die Legitimation ist dabei zentral. Es sei eines der Hauptmerkmale jeder autoritären Herrschaft, dass ihre Autorität sich immer legitimiert (Arendt 2016: 162). Ein legitimes hierarchisches Verhältnis nennt Arendt Macht, ein illegitimes Gewalt (Arendt 2016: 162). Wo immer diese beiden Begriffe gleichgesetzt werden, sei das Verständnis für Autorität bereits erloschen (Arendt 2016: 162).

Diesen Vorwurf macht Arendt dem Liberalismus und den Liberalen, welche ihrer Meinung nach so überzeugt davon waren, dass alle Macht korrumpiert und daher die Konstanz des Fortschritts an einen konstanten Machtverlust gebunden ist, dass sie sich um die Frage nach dem Ursprung der Macht oder nach ihrer Legitimierung wenig kümmerten (Arendt 2016: 162). Autorität steht für Arendt nicht im Widerspruch zu Freiheit: Die beiden Begriffe sind keineswegs Gegensätze und einem Autoritätsverlust entspricht kein automatischer Freiheitsgewinn (Arendt 2016: 162). Vielmehr scheint Autorität fast eine Vorbedingung für Freiheit, denn Arendt diagnostiziert eine fortschreitende Freiheitsbedrohung, welche mit dem fortschreitenden Autoritätsverlust einhergeht (Arendt 2016: 162).

Arendt’s Autoritätsbegriff bezieht sich stets auf das Politische und nicht auf die Pädagogik, obwohl sie durchaus Parallelen zieht und in der Erziehung auch Gründe für die Wichtigkeit von Autorität im Politischen holt. Gerade das Eltern-Kind-Verhältnis erachtet sie als Demonstration einer naturgegebenen Notwendigkeit, menschliches Zusammenleben so einzurichten, dass es in ihm immer Befehlende und Gehorchende, Herrschende und Beherrschte gäbe (Arendt 2016: 164).

Bezogen auf die Legitimation von Autorität bringt Arendt das Element der äusseren Quelle von Autorität ins Spiel: Die Herrschenden holen sich ihre Legitimation, indem sie sich auf eine Quelle berufen, welche ausserhalb und über ihrer eigenen Machtsphäre liegt (Arendt 2016: 162). Bei Plato liegt diese Quelle in der Wahrheit und den Ideen, in deren Besitz nur der Philosoph ist, weshalb dieser als Philosophen-König herrschen und sogar die Autonomie der Beherrschten verhindern soll (Arendt 2016: 170–181). Sokrates wiederum sehe die Quelle von Autorität in der Unerfahrenheit der Jüngeren gegenüber den Älteren. Dieses Verständnis weist Arendt zurück, da Autorität weder im politischen noch im erzieherischen Sinne etwas mit Herrschen gemein hat und wir es im Bereich des Politischen immer schon mit Erzogenen, nämlich mit erwachsenen Menschen, zu tun haben (Arendt 2016: 186). Bei den Römern liegt die Quelle in der Heiligkeit der Gründung Roms und in der Absicht ihrer Bewahrung durch ständige Rückbindung (religare) der Aktualität auf die Gründung (Arendt 2016: 187–192). Die Kirche übernahm diese Form, machte jedoch die Auferstehung Christi zum Eckstein einer neuen Gründung (Arendt 2016: 192). Machiavelli und andere Revolutionäre der Moderne versuchten Neugründungen, allesamt beseelt vom römischen Pathos, welche jedoch daran scheiterten, dass es sich nie um solche handeln kann (Arendt 2016: 198).

Zum Begriff der Autorität bei Gerhard Schwarz

Autorität ist bei Gerhard Schwarz ein hierarchisches Beziehungsverhältnis in sozialen Konstellationen, welches zum Ziel hat, sich selbst überflüssig zu machen und seine Legitimität dadurch erhält, dass die Gruppe bestimmte notwendige Gruppenfunktionen noch nicht selbstbestimmt erfüllen kann.

Schwarz versteht Autorität weder als angeborene Eigenschaft, wie im Feudalsystem angenommen, noch als erlernte Eigenschaft (Schwarz 2019: 119). Da Personen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Autorität haben, wird Autorität hier nicht als individualpsychologische und dauerhafte Eigenschaft begriffen, sondern als gruppendynamisches, soziales Phänomen (Schwarz 2019: 120). Massgebend für dieses Autoritätsverständnis ist der Begriff der Dependenz: Für einen Menschen muss ein anderer Funktionen übernehmen, wenn jener dazu nicht selbst in der Lage ist (Schwarz 2019: 121). Wer eine Funktion für einen anderen Menschen wahrnimmt, ist somit der Auktor der Handlung beider (Schwarz 2019: 121). Das Verhältnis ist also stets ein Soziales, im Sinne einer wechselseitigen personellen Bezogenheit aufeinander, wobei diese mindestens eine Dyade von zwei Personen (z.B. Elternteil-Kind) oder auch grössere Konstellationen wie Gruppen, Organisationen oder ganze Gesellschaften betrifft.

Auf der Ebene von Gruppen müssen gemäss Schwarz stets drei Arten von Gruppenfunktionen erfüllt werden, damit die Gruppe handlungsfähig bleibt und ihre Ziele erreichen kann (Schwarz 2019: 122):

  1. Zielorientierte: Die Gruppe muss ihr Ziel und die Methode zur Zielerreichung festlegen, indem z.B. Informationen verarbeitet, Material geordnet und Entscheide getroffen werden.
  2. Gruppenorientierte: Die Gruppe muss ihren Fortbestand sichern, indem z.B. Konflikte gelöst, Dominanzen ausgeglichen, Missverständnisse geklärt und Witze gemacht werden.
  3. Analytische: Die Gruppe muss eigene Mängel als solche diagnostizieren können, indem z.B. angemerkt wird, dass das Ziel unklar ist und eine Klärung angeregt wird.

Mit Schwarz ist Autorität in diesem Sinne ein anderes Wort für die Unreife einer Gruppe, denn Autorität hat Macht über die Gruppe und übernimmt bestimmte Funktionen für sie (Schwarz 2019: 122). Wo eine Gruppe selbst funktioniert, braucht es keine Autorität.

Die Autorität hat innerhalb von Gruppen eine Doppelfunktion. Erstens ist sie ein Garant der Ordnung. Jede Gruppe ist, um überhaupt Gruppe werden zu können, auf Autorität angewiesen, welche die Ordnung garantiert und notwendige Funktionen wahrnimmt (Schwarz 2019: 123). Selbst sehr reife Menschen, welche in vielen Situationen selbst Entscheidungen treffen können, fallen möglicherweise in einer unreifen Gruppe auf einen dependenten Zustand zurück (Schwarz 2019: 123). Religionen mit ihren Ursprungsmythen sind deshalb Autoritäten, weil sie die Funktion übernehmen, einen Anfang zu setzen, über welchen wir nichts wissen und auch nicht darüber verfügen können (Schwarz 2019: 123). Durch Mythologien der Gegenwart wie dem “Urknall” leisten Physiker das gleiche (Schwarz 2019: 123). Jeder Mensch findet sich immer wieder in Situationen, welche für ihn einen Anfang darstellen und sind somit mehr oder weniger darauf angewiesen, dass andere für ihn bestimmte Funktionen übernehmen (Schwarz 2019: 123). Dies ist jedoch nicht ein Dauerzustand und genau darin liegt die zweite Funktion der Autorität. Die Autorität ermöglicht Autonomie. Sie kann proportional zur Reife der Gruppe ihr Monopol auf bestimmte Funktionen abbauen (Schwarz 2019: 124). Der Sinn der Autorität ist in diesem Fall, sich selbst abzubauen (Schwarz 2019: 124).

Das Verhältnis von Autorität und Selbstbestimmung lässt sich mit einer quadratischen Fläche veranschaulichen, welche horizontal durch eine Linie getrennt ist, wobei der obere Bereich den Anteil an Autorität bezeichnet und der untere Teil den Anteil an Selbstbestimmung. Mit diesem Modell lassen sich nun verschiedene Formen von Autorität diskutieren (vgl. Schwarz 2019: 124–126). Bei einer unreifen Gruppe liegt die horizontale Linie tief. Wenn die Gruppe nur 20% der Gruppenfunktionen selbstbestimmt wahrnehmen kann, müssen 80% durch eine Autorität übernommen werden. Umgekehrt liegt bei einer reifen Gruppe, welche zu 80% selbstbestimmt ist, die Linie hoch und nur 20% der Funktionen müssen von der Autorität übernommen werden. Einen autoritären Führungsstil verfolgt eine Autorität, wenn sie ihre Funktionen monopolisiert und keine Funktionen abgeben will. Einen kooperativen Führungsstil verfolgt eine Autorität, wenn sie, wo immer nur möglich, Funktionen an die Gruppe abgibt und versucht, sich selbst überflüssig zu machen. Eine autoritäre Übertreibung liegt vor, wenn der autoritäre Führungsstil übertrieben wird und die Autorität trotz hoher Gruppenreife (z.B. 80% Selbstbestimmung) auf ihre Führungsfunktion beharrt (z.B. 80% Autorität). Damit überschneiden sich Autorität und Selbstbestimmung, was notwendigerweise zu Konflikten führt. Eine antiautoritäre Übertreibung liegt vor, wenn der kooperative Führungsstil übertrieben wird und trotz tiefer Selbstbestimmung und Gruppenreife (z.B. 20%) die Autorität sich zurücknimmt und weniger Funktionen als nötig (z.B. 20%) erfüllt, wodurch zwischen Autorität und Selbstbestimmung ein Vakuum entsteht (60%), welches sich in Chaos und Unordnung äussert.

Thematische Gegenüberstellung der beiden Autoritätsbegriffe

Anhand verschiedener von Arendt aufgegriffener Themen sollen nun die beiden erarbeiteten Autoritätsbegriffe gegenübergestellt werden. Gegenstand der Betrachtung sind Arendts Kritik an den Sozialwissenschaften bezogen auf ihr Autoritätsverständnis wobei 1) der Strukturfunktionalismus und 2) die Studien zur autoritären Persönlichkeit diskutiert werden. Danach wird 3) Autorität dem Begriff des Totalitarismus gegenübergestellt und schliesslich 4) Liberalismus und Konservatismus im Kontext von Autorität beleuchtet.

Strukturfunktionalismus und Autorität

Arendt erachtet die zeitgenössischen Sozialwissenschaften bezogen auf die Debatte um Autorität als schädlich und begriffliche Verwirrung stiftend (Arendt 2016: 166).

Obwohl sie dies nicht expliziert, kritisiert sie erstens den Strukturfunktionalismus. Dies ist zeitlich wie inhaltlich kohärent. Zeitlich basiert der Essay “Was ist Autorität?” auf Gedanken, welche Arendt 1955 für einen Vortrag an einer internationalen Konferenz in Mailand zu Papier gebracht hat (vgl. Arendt 2016: 403). Dies korreliert mit wichtigen Publikationen des Strukturfunktionalismus, der damals in den USA die dominante soziologische Theorie war, nämlich unter anderem Robert K. Mertons “Social Theory and Social Structure” (Merton 1949) oder Talcott Parsons’ “The Social System” (Parsons 1951). Inhaltlich schreibt Arendt von Sozialwissenschaften, welche glauben, sich von historischen Wissenschaften emanzipiert und als objektive Wissenschaft etabliert zu haben (Arendt 2016: 166). Ausserdem gelte ihr Interesse nur dem Funktionieren: “was immer die gleiche Funktion erfüllt (..) ist für sie daher von vornherein dasselbe” (Arendt 2016: 167). Der Objektivitätsanspruch und der Funktionalismus sind beide typisch für den Strukturfunktionalismus. Arendt stösst sich hauptsächlich am verkürzten Blick auf die Funktion (Arendt 2016: 167).

Falls diese Gleichsetzung tatsächlich stattfindet, wäre dies durchaus zu problematisieren. Relevant für unsere Frage ist hingegen, dass Schwarz durchaus funktionalistisch argumentiert. Schwarz würde Arendt sicherlich darin zustimmen, dass Religionen und die moderne Physik nicht gleichgesetzt werden können, nur weil sie beide die Funktion übernehmen, mit ihren Mythen (Schöpfung bzw. Urknall) einen Anfang zu setzen und damit funktional Orientierung zu stiften. Analytisch könnte sich die funktionalistische Perspektive durchaus als fruchtbar für Arendt’s Ausführungen erweisen. Mit Schwarz könnte man etwa argumentieren, dass Platos Philosophen für die Sozietät der griechischen Polis insbesondere die analytische Gruppenfunktion erfüllen können. Ihr Anspruch, dass deshalb ihre Autorität auf sämtliche Bereiche der Polis ausgeweitet werden und sie als Philosophen-Könige herrschen sollen, scheint jedoch fragwürdig, da unklar ist, ob sie allein mit Berufung auf die von ihnen postulierte Wahrheit auch gruppen- oder zielorientierte Funktionen erfüllen könnten und ob die Bürger*innen der Polis überhaupt dependent hinsichtlich der Erfüllung dieser Funktionen sind. Die Forderung, die Autonomie der Bürger*innen zu unterbinden, kommt einem autoritären Führungsstil gleich. Sokrates kommt dem Verständnis von Schwarz insofern näher, als dass er ein intergenerationales Dependenzverhältnis feststellt. Dieses als Quelle von Autorität zu essentialisieren greift aber genau so kurz wie Arendts Kritik an Sokrates, dass wir es im Bereich des Politischen immer schon mit erzogenen Menschen zu tun haben. Beide Perspektiven berücksichtigen nicht, dass Menschen in verschiedenen Situationen dependent sein können, egal wie mündig sie sind oder in welchem generationalen Verhältnis sie zueinanderstehen. Die Römer können zwar mit ihrer Berufung auf die Gründung ziel- (Bewahrung der Gründung) und gruppenorientierte Funktionen erfüllen, jedoch zeigt sich auch hier wie bei den vorangehenden Beispielen, dass jeder Versuch, die Quelle der Autorität in einem Äusseren zu finden, zu kurz greift. Wenn dies gemacht und Autorität nicht funktional gedacht wird, tendiert jede Autorität dazu, ihre Herrschaft auf sämtliche Bereiche ausweiten zu wollen, da sie dafür ja eine absolute Legitimation in ihrer postulierten Quelle findet. Dieses Autoritätsverständnis kommt im Sinne von Schwarz einem sehr autoritären Führungsstil gleich und mündet mit grosser Wahrscheinlichkeit in autoritären Übertreibungen.

Arendt schreibt jedoch all diesen politischen Regimes zu, ihre Ordnung durch Autorität zu schaffen. Wenn dies tatsächlich der Fall ist und Arendt nicht Gewaltverhältnisse übersieht, wäre zu fragen, ob die Beherrschten tatsächlich so lange dependent waren und wenn ja, bezüglich welcher Funktion und wieso sie keine Schritte hin zu mehr Selbstbestimmung unternommen haben.

Die autoritäre Persönlichkeit

Die zweite Kritik an den Sozialwissenschaften richtet sich gegen Theodor W. Adornos Studien zur “autoritären Persönlichkeit” (Adorno 1950). Diese Studien fallen ebenfalls in die Zeit von Arendts Essay. Ausserdem verweist Arendt begrifflich direkt darauf (Arendt 2016: 168). Die Studien würden insofern Verwirrung stiften, als ihnen nahezu immer eine Gleichsetzung von Zwang und Gewalt mit Autorität zugrunde liege (Arendt 2016: 168).

Auch hier wäre näher zu prüfen, ob dieser Vorwurf stimmt. Möglicherweise rührt der Vorwurf von einer begrifflichen Verwirrung zwischen autoritär und Autorität. Mit Schwarz ist autoritäre Autorität ein Spezialfall von Autorität, wobei die autoritären Ansprüche entgegen dem Selbstbestimmungspotential der Gruppe durchzusetzen versucht werden, was durchaus gewaltvoll ist. Gegenstand der Studien zur autoritären Persönlichkeit ist aber die Seite der Beherrschten, es geht also quasi um die Gegenstücke von Schwarz’ kooperativem und autoritärem Führungsstil. Es wird in der Studie der Frage nachgegangen, wieso Beherrschte, statt nach mehr Selbstbestimmung und Freiheit zu streben, nach mehr Autorität und Fremdbestimmung rufen.

Arendt verwendet den Begriff der Autorität nie im Adjektiv. Diese Verwendung könnte sich jedoch für Arendts Bestrebeungen den Totalitarismus zu analysieren fruchtbar erweisen.

Totalitarismus und Autorität

Arendt hält fest, dass Totalitarismus insofern nichts mit Autorität zu tun hat, als dass die Aufgabe der Autorität immer gewesen ist, die Freiheit zu begrenzen und sie gerade dadurch zu sichern (Arendt 2016: 162). Im Totalitarismus aber verschwindet die Freiheit. Das Aufkommen der totalitären Herrschaftsapparate erachtet Arendt deshalb auch als evidentestes Zeichen des modernen Autoritätsverlustes (Arendt 2016: 163).

Schwarz entwickelt in seiner Abhandlung eher nebenbei eine simple Faschismustheorie: Der rasche Abbau von Feudalstrukturen im 20. Jahrhundert habe nach kurzen chaotischen demokratischen Intermezzi zu Faschismus geführt (Schwarz 2019: 126). So hätten Deutschland, aber auch Österreich, Italien, Spanien, Griechenland und Russland eine faschistische Phase gehabt, bevor sie dauerhaft zur Demokratie fanden (Schwarz 2019: 126). Faschismus wäre in diesem Sinne die Reetablierung von Autoritätsstrukturen bei zu raschem Abbau der Autoritäten und dadurch hervorgerufenen chaotischen Zuständen (Schwarz 2019: 127). In Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Schweden und Norwegen sei es deshalb nicht zu Faschismus gekommen, weil die Feudalstrukturen zumindest formal noch vorhanden geblieben und nur langsam in ihren Funktionen von demokratischen Strukturen abgelöst worden sind (Schwarz 2019: 127).

Arendt’s Feststellung, dass Totalitarismus eine Evidenz von Autoritätsverlust sei, wäre also mit Schwarz beizupflichten. Autoritätsverlust muss mit Schwarz aber nicht zwingend in Faschismus enden, sondern kann genauso zu mehr Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit führen - vorausgesetzt es gelingt den Mitgliedern der Gesellschaft, die von der Autorität nicht mehr übernommenen Funktionen selbst zu erfüllen.

Liberalismus, Konservatismus und Autorität

Liberalismus und Konservativismus entstanden nach Arendt gleichzeitig und als Reaktion aufeinander, in dem Moment, als im Politischen der Autoritätsverlust stattfand (Arendt 2016: 166). Die Liberalen war so überzeugt davon, dass alle Macht korrumpiert, dass sie sich um die Frage nach dem Ursprung der Macht oder nach ihrer Legitimierung wenig kümmerten (Arendt 2016: 162). Die liberale Antwort auf den Autoritätsverlust war einzig die Forderung von mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Mit Schwarz gesprochen übersahen aber die Liberalen, dass bei einem Autoritätsverlust zunächst einmal ein Vakuum bzw. normatives Chaos entsteht und dieser nicht automatisch mit mehr Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung gleichzusetzen ist. Die Liberalen hätten also statt nur auf Freiheit zu setzen und dem freien Markt zu vertrauen, sich auch irgendwie um eine neue Form von demokratischer Ordnung kümmern müssen. Die Konservativen wollten hingegen die alte Autorität wiederherstellen und mit ihr die zügellos gewordene Freiheit begrenzen (Arendt 2016: 165). Mit Schwarz gesprochen übersahen sie damit die Möglichkeit, das entstandene Vakuum durch mehr Demokratisierung selbst zu füllen.

Hier lässt sich fragen, inwiefern sich der konservative Typus von dem im vorangehenden Abschnitt beschriebenen totalitären Typus abgrenzen lässt, denn beide wollen die verlorengegangene Autorität zurück. Arendt würde diese beiden Typen jedoch kaum gleichsetzen. Vor diesem Hintergrund scheint Schwarz’ totalitärer Typus zu ungenau definiert und müsste in seinen eigenen Begriffen vielmehr als eine autoritär übertriebene Füllung des Vakuums durch Herrschaft beschrieben werden, welche durch gleichzeitige Existenz von autoritären Persönlichkeitsstrukturen auf Seite der Beherrschten ermöglicht wird. Konservativismus wäre in diesem Sinne höchstens insofern vernünftig, als er zurecht antizipieren kann, dass das Vakuum nicht von einem Tag auf den anderen durch Selbstbestimmung füllbar ist, und es deshalb sinnvoll sein kann, bis zu einem bestimmten Grad die Autorität und damit die Ordnung wiederherzustellen, ohne jedoch dabei in einer autoritären Übertreibung die bereits vorhandene Gruppenreife und Freiheit zu gefährden.

Ein schärferer Autoritätsbegriff?

Lässt sich durch die gemachte Gegenüberstellung der Autoritätsbegriff schärfen und für soziologische Analysen fruchtbar machen? Arendt liegt zumindest auf der Ebene ihrer Beobachtungen nicht falsch damit, dass in den betrachteten Epochen die Quelle der Autorität ausserhalb ihrer selbst gesetzt wurde. Werden diese historischen Beobachtungen mit der funktionalistischen Perspektive von Schwarz ergänzt, sind gehaltvolle soziologische Analysen der politischen Ordnungen jeweiliger Epochen möglich. Arendts Betrachtungen zu Liberalismus, Konservatismus und Totalitarismus können Schwarz’ Faschismustheorie schärfen. Schwarz wiederum erweist sich als fruchtbar, um die Frage nach Autoritätsverlust bei Arendt weiterzudenken und Erklärungsmuster zu finden, welche Arendts tendenziell resignierter Diagnose entgegenstehen. Autoritätsverlust muss nicht per se schlecht sein, wie dies bei der Lektüre Arendts den Anschein machen könnte, sondern kann Demokratisierung und mehr Selbstbestimmung bedeuten. Weiter ist Schwarz’ gruppendynamische Perspektive und deren Ausweitung auf grössere Sozietäten nützlich, um Arendts Trennung von Autorität im Politischen und “Natürlichen”(z.B. Eltern-Kind, Hirte-Schafe) zu überwinden, denn das Modell kann auf Dyaden genauso wie auf ganze Gesellschaften angewendet werden. Arendt bemängelt, dass in der Gegenwart Autorität meist mit Gewalt gleichgesetzt wird. Um diese Perspektive aufzubrechen und zu differenzieren, dafür erweisen sich beide AutorInnen als nützlich.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1950): The Authoritarian Personality. New York: Harper & Bros.

Arendt, Hannah (2016): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im poltischen Denken. 4. Auflage. München Berlin Zürich: Piper.

Merton, Robert King (1949): Social Theory and Social Structure. New York; London: The Free Press.

Parsons, Talcott (1951): The Social System. London: Routledge & Kegan Paul.

Schwarz, Gerhard (2019): Die “Heilige Ordnung” der Männer: Hierarchie, Gruppendynamik und die neue Genderlogik. 6., überarbeitete Auflage, korrigierter Nachdruck. Wiesbaden: Springer.

Matthias Zaugg

I’m a MA-student in sociology & political science (also former software developer & social worker).