Radikale und deliberative Demokratietheorie

Was ist radikale Demokratietheorie? Charakteristisch für dieselbe seien drei Spielarten, welche, je ausgeprägter sie sind, einer Demokratietheorie umso stärker das Attribut der Radikalität verleihen würden (vgl. Comtesse u.a. 2019: 11–15, 463–474). Erstes Merkmal sei die kritische Selbstreflexivität, durch welche etablierte Institutionen oder Entscheidungsinhalte reflexiv in Frage gestellt werden können. Zweitens seien Demokratietheorien dort radikal, wo die demokratische Durchdringung der Gesellschaft eine hohe Intensität aufweist und möglichst viele Lebensbereiche partizipativ gestalt- und befragbar sind. Drittens seien Demokratietheorien insbesondere dann radikal, wenn sie die Kontingenz moderner Gesellschaften betonen und letzten Gründen sowie Fundamentalismen mit Skepsis begegnen.

Die AutorInnen verweisen mehrmals auf die deliberative Demokratietheorie von Jürgen Habermas (vgl. Comtesse u.a. 2019: 466–468, 474, 481–483). Das Verhältnis radikaler und deliberativer Demokratietheorie sei ambivalent (Comtesse u.a. 2019: 481). Habermas werden zwar einige radikaldemokratischen Denkfiguren nahestehende Elemente zugebilligt, doch wird er in mehreren Punkten kritisiert.

Erstens wird Habermas vorgeworfen, mit seinem diskursiven Rationalitätsbegriff erneut einen “letzten Grund” einzuführen und somit der Kontingenz moderner Gesellschaften theoretisch nicht gerecht zu werden. Während das übliche Denken politischer Soziologie darauf abziele, Demokratiemodelle mit normativem oder empirischem Gültigkeitsanspruch zu entwickeln, komme es “jenem radikaldemokratischen Argument zufolge gerade darauf an, die kontingente Praxis demokratischen Selbstregierens auch theoretisch ernst zu nehmen” (Comtesse u.a. 2019: 464). Was mit der Forderung nach dem Ernstnehmen genau gemeint ist, bleibt unklar.

Eine Leseart davon könnte sein, dass implizit gesagt wird, eine normative Orientierung der Theorie sei theoretisch unmöglich und auch nicht anzustreben. Dies erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Habermas und Luhmann (vgl. Habermas & Luhmann 1971). Ähnliches warf Luhmann damals der Theorie Habermas vor: Sie sei gar keine Soziologie, da sie einen idealen Massstab dafür brauche, wie eine gute Gesellschaft auszusehen habe (Horster 1999: 33). Aus der Perspektive von radikaldemokratischen TheoretikerInnen könnte dies dahingehen reformuliert werden, dass in einer kontingenten Welt nicht gesagt werden kann, was die gute Gesellschaft sei. Sich an solch einem idealen Massstab zu orientieren, nehme deshalb die Kontingenz nicht ernst.

Doch vielleicht ist es eben gerade ein Ernstnehmen der Kontingenz (oder einer Gesellschaft des “nachmetaphysischen Denkens”), dass die normative Richtung der Theorie aus ihr selbst heraus hergeleitet wird. Denn gerade dann, wenn man sich nicht auf religiöse oder andere äussere Gründe berufen kann, muss dies die Theorie selbst leisten. Ihren normativen Massstab auszuweisen, war seit ihren Anfängen ein zentrales Anliegen der Kritischen Theorie (Horster 1999: 14). Das paradigmatische Programm dafür wurde von Horkheimer 1937 im Aufsatz “Traditionelle und kritische Theorie” beschrieben (Horkheimer 2011). Habermas schliesst sich diesbezüglich an die Tradition der Kritischen Theorie an, indem er “das normative Telos seiner Wissenschaft” offenlegen will (Horster 1999: 15). Sein Erkenntnisinteresse nicht offenzulegen und zu behaupten, objektive Ergebnisse vorlegen zu können, “ist eine Unredlichkeit, die Habermas erregt” (Horster 1999: 15). Ersteres könnte jedoch der radikalen Demokratietheorie vorgeworfen werden: Durch ihre Flucht in die Beliebigkeit der Kontingenz drückt sie sich vor der Verantwortung, ihre eigenen normativen Grundlagen zu reflektieren und ihren eigenen Massstab offenzulegen. Die Negation der Möglichkeit einer normativen Orientierung ist aber gleichermassen eine normative Orientierung, sie wird sich dessen jedoch tendenziell nicht selbst bewusst.

Zweitens wenden sich verschiedene radikale DemokratietheoretikerInnen dezidiert gegen die habermas’sche Konsensorientierung und betonen stattdessen, dass Demokratietheorien kommunikative Macht nicht konsensual, sondern dissensual zu entwerfen haben (Comtesse u.a. 2019: 481), wie dies beispielsweisse Mouffe mit ihrem agonistischen Modell tut (vgl. Mouffe 2014).

Auch dies erinnert an die Habermas-Luhmann-Kontroverse (vgl. Habermas & Luhmann 1971). Hier scheint eine differenzierte Betrachtung von Konsens als Ideal und Konsens in der Empirie sinnvoll. Obwohl dies genauer zu prüfen wäre, sagt Habermas (Habermas 2014) wohl kaum, dass Konsens empirisch oft anzutreffen sei, sondern hauptsächlich, dass Konsens theoretisch als Ideal anzustreben sei. Auf praktischer Ebene kann Dissens sehr wohl auch mit Habermas angebracht werden, doch wird dafür eher der Begriff der Kritik verwendet, durch welchen Geltungsansprüche problematisiert werden können. Habermas zu unterstellen, dass er übersehe, dass es praktisch oft nicht gelingt, Kritik anzubringen, greift zu kurz. Die ideale Sprechsituation heisst deshalb ideal, da die Wirklichkeit wohl kaum je an sie heranreicht. Sich zu wenig damit auseinanderzusetzen, wie den in der Praxis eine Annäherung an ideale Sprechsituationen passieren kann, könnte man Habermas wohl vorwerfen. Konsens als Ideal aufzugeben bedeutet jedoch, den Anspruch auf Verständigung überhaupt aufzugeben. Dass realiter in Demokratien oft eher die Interessen der Mehrheit als die Mehrheit der Interessen eingebunden wird, darf nicht zur Konsequenz führen, Konsens als Ideal aufzugeben. Oder anders gesagt: Dass wir uns oft nicht verständigen können darf nicht dazu führen, den unterstellten Anspruch, dass wir uns potentiell verständigen könnten, aufzugeben.

Literatur

Comtesse, Dagmar/Flügel-Martinsen, Oliver/Martinsen, Franziska & Nonhoff, Martin (2019): Radikale Demokratietheorie: ein Handbuch. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Habermas, Jürgen (2014): Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen & Luhmann, Niklas (1971): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie : was leistet die Systemforschung? Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Horkheimer, Max (2011): Traditionelle und kritische Theorie: fünf Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.

Horster, Detlef (1999): Jürgen Habermas zur Einführung. Hamburg: Junius.

Mouffe, Chantal (2014): Agonistik: die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.

Matthias Zaugg

I’m a MA-student in sociology & political science (also former software developer & social worker).