Queer-Theory und das psychophysische Problem

Die Unterscheidung von biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender) wurde von feministischen Theoretiker*innen eingeführt. Dabei wurde sex der Sphäre der unveränderlichen Natur und gender der Sphäre der veränderlichen Kultur zugeordnet. Judith Butler hinterfragte diese Trennung und theoretisierte auch das biologische Geschlecht als eine immer schon diskursiv durch Kultur geformte Kategorie (Butler 1991). Dies brachte ihr von radikalen Feministinnen die Kritik ein, dass sie Frauen mit ihrem Dekonstruktivismus entkörpere und generell mit ihrer konstruktivistischen Theorie die Natur oder Materialität zu wenig berücksichtige (vgl. bspw. Duden 1993).

Diese Debatten zu Natur und Kultur berühren meines Erachtens im Kern das “psychophysische Problem”. Unter diesem Begriff versteht man in der Philosophie die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele, bzw. Körper und Geist, bzw. Materie und Bewusstsein. Ich will in diesem Essay für zwei spezifische Queer-Theoretiker*innen erörtern, welches Verständnis des psychophysischen Problems implizit in ihren Theorien steckt und gehe der Frage nach, wieso solch eine Reflexion für die Queer-Theory relevant ist. Ich wähle Judith Butler und Anne Fausto-Sterling, weil beide den sex-gender-Dualismus zu überwinden versuchen, was sie für mein Vorhaben besonders interessant macht. Der Text ist wie folgt aufgebaut: Ich führe (1), soweit wie für das weitere Verständnis nötig, in das psychophysische Problem ein und skizziere die gängigsten von der Philosophie vorgeschlagenen Lösungen dafür. Danach arbeite ich (2) anhand einiger Aussagen für beide Theoretiker*innen heraus, welche Lösung des psychophysischen Problems meiner Meinung nach implizit in ihren Theorien steckt. Schliesslich beantworte ich (3) die aufgeworfene Frage nach der Relevanz dieser Reflexion für die Queer-Theory.

Das psychophysische Problem und seine “Lösungen”

Beim psychophysischen Problem geht es um die Frage, wie die Welt des Bewusstseins und die Welt der Materie zusammenhängen. Dieses Problem ist sehr alt und beschäftigte Menschen als die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele oder von Körper und Geist seit der Antike. Wir erleben unser Dasein als in zwei Welten getrennt. Einerseits haben wir subjektive Erlebnisse: Unser Denken, Fühlen und Erleben hat eine bestimmte subjektive Qualität. Es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an, etwas Rotes zu sehen oder Schokolade zu schmecken. Philosoph*innen bezeichnen diese erlebten Geistesinhalte als Qualia. Andererseits scheint auch eine physische oder objektive Welt gegeben, in welcher wir Dinge vermessen oder in welcher wir voraussehen können, was passiert, wenn ein Stein in eine Fensterscheibe geworfen wird. Die beiden Welten sind miteinander verwoben: Wenn ich mir im Geiste vornehme, dass ich meinen Arm hebe um einen Stein zu werfen, dann macht dies mein Arm in der Regel und ich sehe den Stein fliegen. Umgekehrt hat die materielle Welt auch auf mein subjektives Erleben einen Einfluss, etwa dann, wenn ich über einen Stein stolpere und auf den Boden pralle, was sich dann subjektiv als Schmerzempfindung äussert.

In der Philosophie werden verschiedene Typen von Lösungen des psychophysischen Problems unterschieden: Im Idealismus wird die Position vertreten, dass alles fundamental geistig ist (Chalmers 2018). Beispiele für Idealismen sind etwa die christliche Genesis,1 Platos Ideenlehre oder der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel und seiner Vorstellung eines Weltgeistes. Gemeinsam ist diesen Theorien, dass sie Bewusstsein als primäre Ursache erachten, aus welcher Materie hervorgeht. Der Idealismus tut sich jedoch schwer damit, erklären zu können, wieso eine kohärente physische Welt besteht. Im Materialismus (oder Physikalismus) wird postuliert, dass alles fundamental materiell ist (Chalmers 2013: 3). Dazu gehört der grösste Teil der Naturwissenschaften, zum Beispiel die Neurowissenschaften, welche Bewusstsein vereinfacht gesagt als Produkt von elektrischen Impulsen im Gehirn erklären wollen. Auch Marx’ Theorie, in welcher er Hegels Idealismus auf den Kopf gestellt hat, ist materialistisch.2 Gemeinsam ist diesen Theorien, dass sie Materie als primäre Ursache erachten, aus welcher Bewusstsein hervorgeht. Der Materialismus tut sich schwer, zu erklären, wie aus Materie subjektive Erfahrungsinhalte entstehen können. Materialismus und Idealismus sind beides Monismen, welche ein einziges Seinsprinzip postulieren, aus welchem alles andere hervorgeht. Im Gegensatz dazu wird im Dualismus postuliert, dass nicht alles fundamental materiell ist und deshalb alles, was nicht fundamental materiell ist, fundamental geistig ist (Chalmers 2013: 3). Es werden also zwei komplett verschiedene Seinsprinzipien postuliert. Der bekannteste Vertreter dieser Position ist Descartes, nach welchem der “cartesianische Dualismus” benannt ist. Dualistische Positionen tun sich schwer zu erklären, wie die beiden getrennten Welten miteinander interagieren können. Nebst oben erwähnten idealistischen und materialistischen Monismen, gibt es noch neutrale Monismen, welche postulieren, dass alles immer gleichzeitig materielle und geistige Eigenschaften besitzt. Das würde jedoch bedeuten, dass auch kleinste Elementarteilchen bereits geistige Eigenschaften haben, wie dies beispielsweise im Panpsychismus als Spielart des neutralen Monismus der Fall ist (vgl. Chalmers 2013; Spät 2010, 2016). Eine ähnliche Position eines neutralen Monismus ist bei Bateson zu finden (vgl. Bateson 2000).

Ohne hier vertieft darauf einzugehen kann festgehalten werden, dass keiner der Lösungsvorschläge abschliessend plausibel ist und alle neue Widersprüche erzeugen (vgl. Chalmers 1998: 28).

Das psychophysische Problem bei Judith Butler und Anne Fausto-Sterling

Im Folgenden versuche ich, einen Einblick ins Verständnis vom Geist-Materie-Verhältnis bei Judith Butler und Anne Fausto-Sterling zu erlangen und ihre Positionen den oben geschilderten “Lösungen” für das psychophysische Problem zuzuordnen.

Butler kritisiert an der bisherigen feministischen Theorie, dass das feministische Subjekt durch die Unterscheidung von anatomischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) aufgespalten wird (Butler 1991: 22). Nach Butler ist auch sex als Kategorie genau wie gender diskursiv konstruiert und dient der Legitimation und Stabilisierung des heteronormativen Geschlechterrahmens (Butler 1991: 24). Diesen Standpunkt vertritt Butler auch in ihrer Antwort auf die Kritik, dass sie “die Frauen entkörpere” (Duden 1993): In Bodies that matter schreibt sie, dass die sich ständig wiederholende Macht des Diskurses diejenigen Phänomene hervorbringt, welche sie reguliert und restringiert (Butler 1993: 22). Materie ist somit immer etwas zu Materie gewordenes und ein Effekt von diskursiver Macht.

Butler wendet sich also in ihrer Argumentation gegen die strikte Trennung von sex und gender und damit gegen eine dualistischen Position, welche Materie und Geist in zwei völlig verschiedenen Sphären ansiedelt. Materialität wird bei Butler performativ in Diskursen hergestellt. Ein Diskurs kann als Produkt von geistiger Aktivität verstanden werden. Dass Geist die Materie hervorbringt ist wiederum die Position des Idealismus. Ich würde deshalb Butlers Theorie als idealistische bezeichnen.

Auch Anne Fausto-Sterling, eine Biologin und Queer-Theoretikerin, kritisiert wie Butler die fundamentale Trennung von Natur und Kultur und wendet sich explizit gegen Dualismen. Im Gegensatz zu Butler plädiert sie jedoch dafür, Materie/Natur und Diskurs/Kultur als untrennbare Einheit gleichsam ernst zu nehmen (Fausto-Sterling 2000: 20). Fausto-Sterling wendet sich gegen stark konstruktivistische Perspektiven, denn diese würden tendenziell die Biologie exkludieren und eine feministische Kritik vom Körper oder hormonellen Strukturen undenkbar machen (Fausto-Sterling 2000: 22). Sie geht also mit Butler einig, dass auch sex diskursiv geprägt ist, weist aber darauf hin, dass Domänen der Biologie, Anatomie, Physiologie, Krankheit, Alter, Leben und Tod nicht negiert werden können (Fausto-Sterling 2000: 23). In Anlehnung an (Grosz 2011) schreibt Fausto-Sterling im Gegensatz zu Butler biologischen Prozessen einen Status zu, welcher vor ihrer Bedeutung existiert. (Fausto-Sterling 2000: 23). Aber Rohmaterial an sich ist nie genug und muss in Bedeutung organisiert werden (Fausto-Sterling 2000: 26). Damit postuliert sie eine Einheit von Materie und Geist. Dass Geist und Materie gleichsam eine fundamentale Einheit bilden, ist identisch mit der Position eines neutralen Monismus. Ich würde deshalb Fausto-Sterlings Theorie als neutral monistische bezeichnen.

Zur Relevanz des psychophysischen Problems für die Queer-Theory

Welches Fazit lässt sich aus dieser Erkenntnis ziehen? Die Aufteilung in sex und gender entsprechen einem Dualismus. Folgt man der philosophischen Kritik an dualistischen Positionen, problematisieren Butler und Fausto-Sterling diese Trennung zurecht, denn sie erschwert die Theoretisierung der Verwobenheit von sex und gender. Butler kippt mit ihrer Theorie in eine idealistische Richtung, welche zu einem Anti-Realismus tendiert und die relativ stabile Kohärenz der Welt nicht erklären kann, wie dies vielen poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorien gemein ist. Aus dieser Perspektive ist auch verständlich, wieso gerade marxistische Theoretiker*innen Butler kritisieren, denn sie verfolgen eine materialistische Position. Mit der Wichtigkeit von Butler und anderen Poststrukturalist*innen für die Queer-Theory (z.B. Foucault ), tendiert diese insgesamt zum Idealismus. Positionen wie die neutral monistische von Fausto-Sterling, welche einerseits Dualismen überwinden, andererseits auch ein Gegengewicht zum Idealismus bieten, erachte ich deshalb für die Queer-Theory als relevant. Ein neutraler Monismus scheint mir die Problematiken der Einseitigkeiten von Idealismus und Materialismus am am ehesten überwinden zu können, ohne sich in dualistische Abspaltungen zu verstricken. Einen neutralen Monismus zu postulieren bedeutet aber, geistige Eigenschaften in sämtlicher Materie anzunehmen, also bereits in Elementarteilchen. Ein solch geistiges Universum wiederum klingt für den (natur-)wissenschaftlich aufgeklärten Menschen möglicherweise befremdlich. Welche Lösung für das psychophysische Problem die Beste ist, bleibt auch nach über zweitausend Jahren Denkarbeit unklar. Nicht von ungefähr hat sich deshalb der von David Chalmers eingeführte Begriff “the hard problem” (Chalmers 1998) als Synonym für das psychophysische Problem etabliert.

Literatur

Bateson, Gregory (2000): Geist und Natur: eine notwendige Einheit. Hans Günter Holl(ed.): Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

——— (1993): Bodies That Matter on the Discursive Limits of “Sex”. New York: Routledge.

Chalmers, David J. (1998): “Facing up to the Problem of Consciousness.” in: Jonathan Shear(ed.): Explaining Consciousness: The Hard Problem., Cambridge: Mit Press.

——— (2013): “Panpsychism and Panprotopsychism.”

——— (2018): “Idealism and the Mind-Body Problem.” in: William Seager(ed.): The Routledge Handbook of Panpsychism, New York: Routledge.

Duden, Barbara (1993): “Die Frau Ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung.” Feministische Studien 11(2): 24–33.

Fausto-Sterling, Anne (2000): Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books.

Grosz, Elizabeth (2011): Volatile Bodies Toward a Corporeal Feminism. Bloomington: Indiana University Press.

Marx, Karl & Engels, Friedrich (1968): Werke. Band 23. Berlin: Dietz Verlag.

——— (1975): Werke. Band 13. 7th ed. Berlin: Dietz Verlag.

Spät, Patrick (2010): “Panpsychismus ein Lösungsvorschlag zum Leib-Seele-Problem.” Dissertation. Freiburg in Breisgau.

——— (2016): Der Mensch lebt nicht vom Hirn allein: warum wir kein Haufen Neuronen sind - und was wir dann sind. Berlin: epubli.


  1. “Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.” (Johannes 1:1) ↩︎

  2. “Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.” (Marx & Engels 1975: 9). “Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.” (Marx & Engels 1968: 27). ↩︎

Matthias Zaugg

I’m a MA-student in sociology & political science (also former software developer & social worker).

Related